Gastautorin: Melanie Gath
Mama Anna und ihr Sohn Jacob (3) haben es geschafft. Zusammen sind sie den Camino del Norte gelaufen – 840 km haben sie zurückgelegt. 840 Kilometer entlang der nordspanischen Küste und im Anschluss noch weitere 120 Kilometer nach Muxía und Fisterra. Ausgestattet waren sie einzig mit einem grossen Rucksack und einem Kinderwagen.
Wer sie sind, wie sie diese Reise erlebt haben und was es dazu braucht – das wollten wir von Anna wissen. Auf ihrem Instagram-Channel @blonde_and_baby_on_board schreibt sie über sich: Life on the Road | Vanlife + Worldschooling with a 3-year-old.
“Worldschooling” ist ein Begriff, der uns so gut gefällt. Ein Wort, das so Vieles sagt. Ein Wort, das sich so gar nicht übersetzen lässt und auch eine Umschreibung scheint schwierig. Wir versuchen es dennoch: “Wenn das Entdecken der Welt und das Erleben von Abenteuern deine Schule fürs Leben ist.”

Aktuell sind sie in einem selbst umgebauten Van in Australien unterwegs. Anna sagt im Interview zu uns: “Reisen mit meinem Sohn bedeutet, ihm zu zeigen, dass Abenteuer nicht enden, wenn du Kinder hast. Dass es nur die Art und Weise verändert, aber irgendwie sogar noch bereichernder ist.”
Für uns ist das Inspiration pur. Ich denke viele Eltern kennen das Gefühl oder vielmehr die Angst, dass mit dem Start in das Familienleben mit Kindern, die Freiheiten und Möglichkeiten, die Welt zu entdecken, automatisch eingeschränkt werden. Und dann braucht es manchmal Geschichten und Vorbilder, die einen aufwecken und inspirieren. Die uns Eltern zeigen, dass es nur eine Frage des “Wie” ist.
“Der Jakobsweg ruft dich”
Für Anna war früh klar, dass sie dieses Abenteuer einmal zusammen mit ihrem Sohn erleben möchte. Schon zwei Mal hat sie zuvor eine Pilgerreise gemacht und sie sagt: “Da kommt dieser Punkt, dieses komische Gefühl ‘Es wird Zeit, es wieder zu tun’. Der Jakobsweg ruft dich.”
Sie sagt, die Schmerzen, die Blasen, die regnerischen und nicht so schönen Tage – all das sei vergessen. “Alles, woran du dich erinnerst, sind die magischen, unvergesslichen Momente.”

Anna nimmt ihren Sohn überall mit hin. “Ich möchte, dass er die Welt erleben kann, wie ich es tue. Abenteuer wie diese zeigen ihm so vieles: Neugierde, Resilienz, Offenheit. Dinge, die ihm kein Kindergarten jemals geben könnte. Das ist es, wie ich ihn erziehen möchte: entdecken, sich Herausforderungen stellen und mit jedem Erlebnis wachsen”, erklärt sie uns.
Vor allem die tollen Menschen, die man unterwegs treffe und kennenlerne, seien für sie ein Grund, warum sie dem Ruf des Jakobswegs immer wieder folge. Anna erzählt von zwei Situationen, die sie in diesen sechs Wochen ganz besonders berührt haben: “Als einer der Reifen des Kinderwagens kaputt ging, hat uns jemand über 10 Kilometer begleitet, phasenweise Jacob getragen und den Wagen geschoben. Und ein Pilger, der mir seinen Wanderstock geliehen hat und immer wieder nach meinem schmerzenden Knie geschaut hat, bis es wieder ok war.”
Im Laufe des Interviews spricht sie irgendwann sogar von der kleinen “Camino Family”, die sich gefunden habe. “Die Menschen, die du in Hostels triffst oder auf der Strasse und eure Wege, die sich immer wieder kreuzen. (...) Diese Verbindungen sind die wundervollsten Geschenke des Jakobswegs.”

“Wow, das ist härter als ich dachte”
Irgendwie klingt das alles viel zu schön, um wahr zu sein. Wir wollen von Anna wissen, ob sie irgendwann auch mal Zweifel an dem Vorhaben hatte. Sie antwortet: “Oh, auf jeden Fall. Als ich grosse Steine auf dem Weg sah, wirklich schwierig für einen Kinderwagen. Wenn ich ihn durch den Matsch tragen musste. Wenn der Regen einfach nicht aufhören wollte. Oder wenn wir endlich im Hostel angekommen waren, ich komplett ausgelaugt auf 5 Minuten Ruhe hoffte, und Jacob voller Energie herumrannte, auf die Hochbetten kletterte und ein ganz normaler 3-Jähriger war – in all seinem Verhalten.”
Es habe definitiv Momente des Zweifelns gegeben, gibt sie zu. Momente, in denen sie dachte “Wow, das ist härter als ich dachte”. Aber sie habe niemals darüber nachgedacht, abzubrechen. Denn sie wisse ja, dass all das Teil der Reise sei. Der Jakobsweg sei nicht immer komfortabel, bequem oder einfach, aber all das mache ihn nicht weniger schön.

Vegan unterwegs auf einer Pilgerreise
Um ein möglichst realistisches Bild von der Reise oder vielmehr von dem Alltag, wenn es so etwas unterwegs überhaupt gibt, zu bekommen, fragen wir Anna nach einem “typischen Tag”. Sie schickt vorweg: “Keine zwei Tage sind genau gleich, aber alle starten früh.” Jacob sei meist zuerst wach gewesen und habe dann sichergestellt, dass sie es auch ist. Für Frühstück und eine gewisse morgentliche Routine müsse Zeit sein. “Morgens bin ich nie in Eile. Fertigmachen zusammen mit einem Kleinkind, in Ruhe einen Kaffee trinken – das ist Teil meiner Camino Routine”, sagt sie.
Die ersten Stunden am Tag seien normalerweise vor allem dafür da, um Meter zu machen. Wann immer sie durch eine Stadt gekommen seien, hätten sie die Zeit genutzt – für eine Pause beispielsweise für Kaffee, Einkäufe oder einen Spielplatzbesuch. Das Essen sei simpel, zubereitet irgendwo in der Natur. “Brot, Hummus, Tomaten, Avocado, Früchte”, zählt sie auf.

Anna lebt vegan und sie sagt, dass sie überrascht gewesen sei, wie gut es auf ihrer Reise funktioniert habe – sogar in den Hostels. “Die Gerichte seien häufig von Natur aus vegan: beispielsweise Nudeln mit Tomatensauce, Reis mit Gemüse, Suppen, Salate und Brot mit Marmelade zum Frühstück. Das hat alles wirklich gut funktioniert.”
“Jacob läuft immer dann, wenn er sich danach fühlt, über Steine klettern kann oder aber der Weg zu schwer ist, um den Kinderwagen an dieser Stelle zu schieben. Genau das sind meist seine liebsten Passagen”, erklärt Anna. Auf oder in der Nähe von grösseren oder mehrbefahrenen Strassen bleibe er im Kinderwagen, weil es sicherer sei und sie so leichter mehr Kilometer machen könnten. Allgemein hätten sie nie hetzen wollen. Einzig die Schliesszeiten der Hostels seien manchmal Grund für ein bisschen Stress unterwegs gewesen. Zumal sie hätte feststellen müssen, dass es immer weniger Hostels auf dem Weg gibt.

“Er hat die Zeit in der Natur so viel mehr genossen”
Dazu erklärt Anna noch: “Es war eine grosse Veränderung, als wir unterwegs ein Zelt gekauft haben und anfingen, in der Natur zu campen. Plötzlich waren die Tage langsamer. Wir haben längere Pausen im Laufe des Tages gemacht, die kleinen Momente noch mehr genossen und sind dann abends gelaufen.” Oft seien sie dann erst gegen 21 Uhr angekommen.
Meistens hätten sie in der Nähe anderer Pilger ihr Zelt aufgeschlagen. “Geschichten teilen, lachen und gemeinsam Kochen – mit Menschen aus der ganzen Welt. Das hat den Jakobsweg noch magischer gemacht”, erinnert sich Anna. Und für Jacob sei das Campen auch deutlich besser gewesen: “Er war jedes Mal voller Vorfreude wenn wir im Zelt geschlafen haben. Er hat die Zeit in der Natur so viel mehr genossen als die vollen Hostels.”
Vermutlich alle Eltern wissen, dass schon ein Weg zur Schule, ein Spaziergang zum Dorfladen oder schon nur das Anziehen der Schuhe eine kraftraubende Angelegenheit mit Kleinkindern sein kann. Daher wollen wir von Anna nochmal genauer wissen, wie sie das unterwegs gemacht haben. Wie sie mit den Bedürfnissen von Jacob umgegangen ist. Wie zum Beispiel hat sie Pausen, Spielzeit, Schlafzeit organisiert?
Sie antwortet sehr klar: “Die Bedürfnisse von Jacob waren immer am wichtigsten, aber ich habe versucht, es mit dem Rythmus des Weges anzugleichen.” Sie hätten regelmässig Pausen gemacht – für Snacks, Wasser oder einfach um etwas zu entdecken. Er habe nicht viel mit Spielzeug gespielt, stattdessen sei er lieber auf Steine geklettert, voraus gerannt, wenn der Weg es möglich gemacht hat oder habe auf einem Spielplatz gehalten, wenn sie an einem vorbeikamen.

Obwohl Jacob eigentlich keinen Mittagsschlaf mehr mache, habe es unterwegs durchaus diese Situationen gegeben: “Er hat gesagt ‘Ich möchte mich ein bisschen ausruhen’, sprang in den Kinderwagen und war innerhalb von 5 Minuten eingeschlafen.”
Anna erzählt, dass es eigentlich keinen Tag gegeben habe, an dem Jacob gar nicht hätte laufen wollen. Sie habe ihm im Voraus alles gut erklärt. Dass es jeden Tag wieder darum gehen werde, aufzustehen, den gelben Pfeilen zu folgen und zu laufen, bis sie das nächste Hostel erreichen. Es sei ihr wichtig gewesen, dass er auch wirklich versteht, dass es nicht nur um einen Tag geht, sondern um ein lange Reise. “Sobald wir auf dem Jakobsweg unterwegs waren, hatte er den Rhythmus verstanden”, sagt Anna. “Er war voller Vorfreude, was als nächstes kommt, und hat es geliebt, neue Leute zu treffen.” Auch das Wiedersehen alter “Jakobsweg-Freunde” und das Entdecken neuer Orte hätten ihn immer wieder motiviert.
Packen für 6 Wochen in einem Rucksack
Zum Ende hin wollen wir von Anna unbedingt auch noch wissen, was sie denn alles dabei hatten. Wie sie für sich und ihren 3-jährigen Sohn alles in diesen einen Rucksack und den Kinderwagen gepackt hat. Und was war unverzichtbar? Vor allem für Jacob? Sie sagt: “Die wichtigste Regel ist, leicht zu packen, weil du alles auf deinem Rücken trägst und zu viel Gewicht kann deine Tage wirklich schwierig machen. Wir waren froh, den Kinderwagen dabei zu haben, weil wir darunter die schwerere Ausrüstung packen konnten.” Das habe einen grossen Unterschied gemacht.
Für Jacob seien während der Reise ein paar Dinge tatsächlich unverzichtbar geworden. “Seine Wanderschuhe waren das Wichtigste, sie haben ihm Selbstbewusstsein gegeben, um auf Hügel zu klettern oder auf Steinen zu balancieren. Er war so stolz, die gleiche Art von Schuhen zu tragen wie andere Pilger.” Und ein warmer, gemütlicher Hoodie oder eine Fleecejacke für kühle Morgen und Abende und seine Zip-off Hose seien für ihn noch besonders wichtig gewesen. Was sie sonst noch im Rucksack dabei hatte, könnt ihr auf ihrem Instagram-Account sehen.

“Für Kinder ist es unbezahlbar”
Viele Menschen begeben sich auf den Jakobsweg, um Antworten zu finden. Oft aus einer schwierigen Lebenssituation heraus oder einem Moment der grossen Entscheidungen. Wir fragen Anna: “Was hat dieses Abenteuer mit ihr und mit Jacob gemacht?” Über ihren Sohn sagt sie: “Er hat gelernt, dass Abenteuer nicht nur bedeutet, das Ende zu erreichen, es geht um jeden Schritt entlang des Weges.”
Als Tipp für andere Familien sagt sie: “Geht einfach los. Wartet nicht auf den ‘perfekten Zeitpunkt’, denn er existiert nicht. Für Kinder ist es unbezahlbar. Sie lernen Resilienz, Anpassungsfähigkeit, Geduld und die Freundlichkeit teils noch fremder Menschen. Dinge, die sie im alltäglichen Leben niemals lernen könnten.”

Auch für die Eltern könne es eine so unglaublich lehrreiche Erfahrung sein: “Du wirst sehen, dass du dich immernoch Herausforderungen stellen, Träume jagen und Dinge tun kannst, die du liebst. Und das alles während du deinen Kindern zeigst, dass sie ein Teil des Abenteuers sind.”
Sie selbst habe gelernt, dass die Magie passiert, “wenn du aufhörst zu planen und dem Weg vertraust.” “Der Jakobsweg hat mich daran erinnert, dass das Leben nicht kompliziert sein muss. Dass man das Glück oft in den einfachsten Momenten findet und dass manchmal die Reise selbst der schönste Ort ist.”
Zum Abschluss dieses wundervollen Abenteuerberichts würden wir gerne eine letzte Anekdote von Anna teilen. Sie hat uns erzählt: “In Santiago hat mich eine Frau gefragt, ob ich meine Antworten gefunden hätte. Ich habe ehrlich mit ‘Nein’ geantwortet. Ich hatte sogar noch mehr Fragen. Und diese Frau hat etwas zu mir gesagt, das ich niemals vergessen werde: ‘Das ist der Punkt. Du findest nicht immer die Antworten. Aber du lernst es, die besseren Fragen zu stellen.“
Was hoffst du, dass dein Kind aus dieser Reise fürs Leben mitnehmen wird?
“Ich hoffe, es gibt ihm Selbstvertrauen, dass …
… er weitermachen kann, auch wenn es hart ist.
… Berge, lange Wege oder Hindernisse nur Abschnitte des Abenteuers sind und er sie bewältigen kann.
… die Welt voller Überraschungen ist.
… es an jedem Ort, jedem Strand und Wald etwas zu entdecken gibt.
… das Entdecken der kleinen Dinge nicht weniger magisch ist als das Erreichen des Ziels.
… aus Fremden Freunde werden können.
… das Anbieten von Hilfe, ein Lächeln oder ein “Hallo” einen grossen Unterschied machen kann.
… er auch mit wenig grossen Spass haben kann.
… Pläne nicht immer perfekt aufgehen und dass das okay ist.
… man mit Flexibilität aus Herausforderungen Abenteuer machen kann.
… Glück nichts mit Grösse oder hohem Preis zu tun hat.
… das Geniessen von kleinen Momenten kraftvoll sein kann.
… der Spass an der Reise und das Lachen auch in schwierigen Momenten genauso wichtig sind wie das Feiern der Erfolge.
… Abenteuer besser sind, wenn man sie gemeinsam erlebt.
… er Teil eines Teams sein kann, etwas beitragen und anderen helfen kann.”






















